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Ein Abend im Hospiz – Begegnung mit der Essenz des Lebens

Autorenbild: Yvonne IneichenYvonne Ineichen


Jeder Mensch wird einmal seine letzte Reise antreten. Gestern wagte ich mich einen Schritt weiter: vom Beobachten, Befragen und Schreiben über das Hospiz zum aktiven Mitwirken im Hospiz. Was ich dort erlebte, lässt mich Demut spüren – und macht mich nachdenklich über unsere Prioritäten als Gesellschaft.


Seit dem Jahr 2018 schreibe ich für das Hospiz Zentralschweiz. In meiner wortwörtlichen Obhut sind das Spendenmagazin MUT, die Social-Media-Beiträge, Texte für Flyer und vieles mehr. Mir war von Anfang an bewusst, dass ich hier für eine enorm gute Sache schreibe. Gestern wage ich mich einen Schritt weiter. Ich lasse das blosse Beobachten, Befragen und Beschreiben hinter mir und tauche ins aktive Mitwirken ein.


Wo Würde und Menschlichkeit zuhause sind

Während einiger Stunden begleite ich die Pflegenden auf ihrer Spätschicht und helfe mit. Eins vorneweg: Die eigenen Sächelchen und Sörgelchen werden für diesen einen Moment banal und klein. Es berührt mich unendlich, Menschen für diesen Abend auf ihrem Weg zum Lebensende zu begleiten. Und es bewegt mich, so offensichtlich zu erleben, dass sie in ihrer Fragilität an diesem Ort so behandelt werden, wie sie es verdienen: mit ganz viel Zuwendung, Fingerspitzengefühl und viel Liebe zum Menschsein. Ich bin bei der Arztvisite dabei. Was mir meine Interviewpartnerinnen und -partner schon oft erzählt haben, erfahre ich nun selbst. Binnen eines Wimpernschlags wird mir klar: Das „technisch“ Medizinische steht hier nicht im Zentrum, sondern wird en passant – und sehr professionell zugleich – aufgenommen. Im Mittelpunkt steht ein offenes Ohr für alles, was in diesem Moment an die Oberfläche drängt. Und für das, was gesagt, noch gelöst werden will. Hinhörend, sehend, mitfühlend. Hin und wieder eine sanfte Berührung, eine Frage, ein humorvoller Einwurf – und plötzlich wird ein schwerer Moment etwas leichter.


Wünsche erfragen und erfüllen

Später am Abend gehe ich mit den Pflegenden von Zimmer zu Zimmer. Was mir auffällt: Es werden keine Anweisungen gegeben, sondern viele Fragen an die Patientinnen und Patienten gerichtet. So kommen Wünsche und Befindlichkeiten ans Tageslicht: Da ist eine Patientin, die sich eine hauchdünne Scheibe Brot wünscht. Mit einem zarten Butterfilm und einer Tranche – ja, einer Tranche – Putenfleisch. Ein Gürklein dazu, das wäre jetzt ihr höchstes Glück. Natürlich erfüllt man ihr diesen Wunsch umgehend. Zu diesem Glück gesellt sich nach dem Essen ein Wickel mit Fenchelöl für den Unterbauch und einer mit Orangenduft kommt etwas weiter oben zu liegen.

In einem anderen Zimmer wohnt ein Patient, dessen Haut am Nacken durch das Liegen ganz empfindsam geworden ist. Ein flauschig weiches Tuch um seinen Hals schafft Linderung. Ob er sein Nachtessen wieder um halb acht einnehmen möchte, fragt die Pflegefachfrau im gleichen Atemzug. «Ja, das wäre schön ...» Ein kleiner Austausch, ein paar Worte hin und her. Da ist kein Hetzen, da ist keine Eile. Da ist ganz viel Weile. Und die körperliche Abendpflege oder diejenige für die Seele dauert so lange, wie sie eben dauert. Einfach menschenwürdig, fällt mir dazu ein. Etwas, das ich uns allen wünsche. Jeden Tag im Leben. Und ganz besonders, wenn man die letzte Etappe antritt. Damit der Übertritt in eine andere Welt vielleicht ein bisschen leichter fällt.


Für ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt

Der Übertritt in eine andere Welt ... Er steht der Dame im nächsten Zimmer kurz bevor. Sie sei sehr sterbend, sagt man mir. Was das bedeutet, sehe ich, als wir an ihr Bett treten. Mir war nicht bewusst, wie zart ein menschliches Wesen, ein erwachsenes menschliches Wesen, wieder werden kann, wenn es auf sein Lebensende zugeht. Wir sind da, um die Abendpflege zu machen. Und um sie neu zu lagern, damit sie es wieder richtig bequem hat. Ganz ehrlich, ich habe Respekt davor, so aktiv mitzuhelfen. Denn ich bin, was die Pflege anbelangt, ein unbeschriebenes Blatt. Doch mit den wunderbaren Anweisungen der Pflegefachperson und mit der ersten Berührung ist jede Angst vorbei. Mein höchstes Ziel ist es, ihr über meine Hände ganz viel Liebe und Wärme zu schenken. Ich habe die leise Ahnung, dass sie spürt, wie wichtig es mir ist, dass sie wohlig ist. So wohl, wie es unter diesen Umständen eben möglich ist. Über ihrem Bett hängt ein Baldachin, wie zwei Engelflügel, die sie umschliessen. Der Baldachin spendet Feuchtigkeit, damit ihr das Atmen ein bisschen leichter fällt … Ein letzter Blick. Dann ziehen wir die Türe hinter uns zu. Sie schliesst sich mit einem leisen Klack. Im Wohnzimmer flackert inzwischen ein Feuer im Kamin, und bei mir klopft langsam die Müdigkeit an. Für mich ist nun Feierabend.


Fragwürdige Prioritäten

Ich trete in die Sternenstille hinaus und weiss: Das, was ich heute Abend erlebt habe, wird mich noch lange begleiten. Während ich mit meinem Auto durch die Strassen der Nacht fahre, denke ich daran, wie selbstverständlich Bund und Kantone für Strassenbau und Wirtschaftswachstum Millionen bereitstellen. Und so zögerlich sind, wenn es um ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt geht. Das ist falsch. Und es sollte uns alle nachdenklich machen. Denn eines ist sicher: Jeder von uns wird diesen letzten Weg gehen. Und es ist schön zu wissen, dass es Orte gibt, an denen Menschen auf ihrer letzten Etappe aufgefangen werden – mit Liebe, Respekt und Würde.

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