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Wenn der Alltag entgleist – und die Würde gleich mit. Oder eben nicht.

  • Autorenbild: Yvonne Ineichen
    Yvonne Ineichen
  • vor 5 Tagen
  • 3 Min. Lesezeit

Die Wahrheit ist unbequem: Wir schneiden einander im Alltag die Würde ab, oft ohne es zu merken. In überfüllten Zügen, in Verspätungen, im eigenen Leistungsdruck. An diesem Mittwoch erlebe ich, wie schnell das passiert – und wie kostbar es ist, die eigene Würde zurückzuholen, bevor alles kippt.



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«Hei, du blödi Chue! Du hesch dech vordränglet und jetz chlausch du mer no miine Setzplatz!» Sagt’s, fuchtelt mit dem Gehstock, trifft zielsicher das Bein der anderen. Die kontert sofort, laut und verletzt.

 

Ich sitze da und beobachte. Zwei Frauen, die einander das Letzte absprechen: Respekt, Raum, Würde. Und mittendrin ich, unterwegs durch einen Tag, der aus Verspätungen besteht.

 

Es beginnt am Mittag. Der Bus fällt aus, der nächste trödelt. Deshalb sprinte ich vom Bundesplatz zum Bahnhof und erwische den Zug nach Frauenfeld um Haaresbreite.


In Zürich ist dann Endstation. Technischer Defekt. Ich checke die nächste Verbindung und weiss: Ich werde zu spät sein. Keine Chance, das zu ändern. Also melde ich meine Verspätung, atme durch und steige in den Ersatzzug. Kaum sitze ich, geht die Türe auf – und die zwei Damen stürzen herein. Das Gezänk bricht los, ein Gewitter liegt in der Luft. Weitere Menschen steigen zu, das Feld lädt sich mehr und mehr auf. Ich fühle jede Welle. Und schiebe sie von mir weg, sanft, bestimmt. Würde beginnt manchmal genau da: nichts von alledem an sich heranzulassen.

 

In Frauenfeld steige ich aus. Mit dem Poschi geht’s Richtung Kartause Ittingen. Den letzten Kilometer marschiere ich. Mit jedem Schritt sinkt die fremde Ladung in den Boden. Um 15.05 klopfe ich an und trete ein, blicke in zehn erwartungsvolle Gesichter. «Yvonne ist heute hier, um über ihre Erfahrungen zu berichten. Sie hat auf die harte Tour gelernt, auf sich achtzugeben.» So kündigt mich der Workshopleiter an.

 

Genau deshalb bin ich da. Um über mein Burnout zu sprechen. Und über den Weg zurück zu mir. Die Szene im Zug legt sich wie ein Lichtbild über alles, was ich erzähle: Wie schnell wir einander im Stress die Würde abschneiden. Wie rasch wir im Stress uns selbst vergessen und verlieren.

 

Früher hätten mich solche Tage völlig aus dem Gleichgewicht geworfen. Heute sortiere ich blitzschnell: Das sind meine 100 %. Was jetzt?

 

Die Fragen im Raum zeigen, wie brennend das Thema bleibt. «Was machst du heute anders?» Meine Antwort: «Ich höre nach innen. Ich lebe meine Selbstständigkeit nicht nach dem Muster selbst und ständig. Ich teile meine Energie ein. Intensive Phasen – ja. Aber darauf folgt Ruhe. Bewegung draussen als tägliche Konstante. Dort tanke ich auf. Dort wird für mich klar, was wichtig ist. Dort kehrt meine Würde und mein Selbstverständnis zurück, wenn beides im Alltag ins Wanken kommt.

 

Ich spreche auch über Geld an diesem Mittwoch. Dass ich weniger verdiene, als wenn ich meine Karriere durchgezogen hätte. Aber der Preis damals war hoch, viel zu hoch. Und den zahl ich nie mehr.

 

Mein Funken Ehrgeiz ist geblieben, natürlich. Wenn ich für Kundinnen und Kunden arbeite, will ich wach, präsent, mit Freude wirken. Und das gelingt nur, wenn ich nicht dauernd kurz vor knapp laufe.

 

Mit meiner Lebensweise schlage ich also zwei Fliegen auf einen Streich: Ich trage Sorge zu mir – und meine Kundschaft bekommt die Qualität, die entsteht, wenn ein Mensch im Lot ist.

 

Am Ende meines Referates wissen alle: Selbstverantwortung trägt auch das Kleid der Würde. Sie zeigt sich im Alltag, im Umgang miteinander, in der Art, wie wir reisen, arbeiten, streiten, warten. Und darin, ob wir uns selbst genügend gelten lassen, um rechtzeitig auf die Bremse zu stehen.

 

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