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Wenn der Wald das Schulzimmer ist

  • Autorenbild: Yvonne Ineichen
    Yvonne Ineichen
  • vor 3 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 2 Tagen

In einer Zeit, in der Kinder (und Erwachsene!) immer weniger draussen sind und viele Stunden drinnen verbringen – vor Bildschirmen, unter Kunstlicht, mit wenig Raum und Bewegung – wächst der Bedarf nach einem anderen Lernen. Immer mehr Stimmen aus der Bildungspolitik und Pädagogik fordern: raus aus dem Klassenzimmer, hinein in die Natur. Denn Lernen im Wald stärkt nicht nur Motorik und Gesundheit, sondern auch Sozialkompetenz, Kreativität und Selbstorganisation. Ein Schulmorgen mit einer kleinen Klasse in einem Wald nahe Wilderswil zeigt, wie lebendig, echt und weit Lernen werden kann, wenn Raum, Natur und Eigenverantwortung zusammenfinden.


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Der Regen zieht Schlieren über die Frontscheibe, als ich an diesem frühen Morgen über den Brünig fahre. Die Scheibenwischer arbeiten unbeirrbar. Es ist kurz vor sieben, die Nacht schlummert noch in meinen Knochen. In Wilderswil wartet eine Waldklasse auf mich. Einige Kinder, zwei Lehrpersonen, ein Schulmorgen im Freien. Ich ahne, dass dieser Vormittag mehr erzählt als eine Unterrichtsform – nämlich etwas über Lernen, Freiheit und darüber, was Kinder heute brauchen würden.

 

Wir fahren mit dem Bus ein Stück aus dem Ort hinaus. Kaum steigen wir aus, fliegt mir ein Schneeball in die Kniekehle. Ich drehe mich um, sehe blitzende Augen und bin sofort hellwach. Sekunden später liefern wir uns eine wilde Schneeballschlacht. Und es zeigt bereits, wie diese Kinder lernen: mit Bewegung und mit Spielfreude.

 

Struktur, die Raum schafft

Am Waldschulplatz öffnet Rahel Schelb eine grosse Box. Darin liegen Utensilien für das Waldschulzimmer bereit. Einen Augenblick später hängen an einer Leine sechs Karten. Jede Karte zeigt ein Symbol – und jedes Symbol steht für einen Schritt des Morgens. «Struktur schafft Ruhe», sagt Rahel. «Aber wir halten sie so weit, dass genug Platz bleibt für Entdeckungen.»

Die Lehrpersonen setzen auf Orientierung, nicht auf Einschränkung. Das widerspricht dem Klischee, Waldschule sei ein freies Herumstreifen. «Kinder können viel mehr, wenn wir ihnen etwas zutrauen», sagt Daniela von Rohr. «Draussen sehen wir, wie selbstständig sie handeln, wenn wir nicht jeden Schritt vorgeben.»

 «Draussen sehen wir, wie selbstständig sie handeln, wenn wir nicht jeden Schritt vorgeben.»

Lernen im Vorbeigehen

Bevor der Unterricht beginnt, stellt mir ein Junge die Baumfreunde vor. Er packt meine Hand und zieht mich von Stamm zu Stamm. Er erklärt mit ungebremster Begeisterung, welcher Baum wem gehört, wer gerne wo sitzt. Zwischen zwei Stämmen kniet ein anderer Junge im Schnee und beäugt Tierspuren an. «Luchs?», fragt er. «Oder Fuchs?» Die Kinder vergleichen Gangarten, erzählen von Tieren, die Fährten verwischen. Wissen wächst hier offenbar wie nebenbei – im Gespräch, im Beobachten und Mitteilen.

 

Teamarbeit ohne Vorgaben

Dann arbeiten sie im Team. Ein Holzunterstand für ihr Feuerholz wird gebaut. Werkzeuge gehören dazu. Eine Bohrmaschine wechselt die Hände. Rahel schaut kurz hin, nickt und stellt eine Frage statt eine Anleitung zu geben: «Wie würdest du das lösen?» Es dauert länger. Es braucht Geduld. Doch die Kinder probieren, kombinieren, scheitern, korrigieren. Genau dieses Tun macht ihren Lernprozess sichtbar.


Statt Anleitungen gibts Fragen.

 

Rechnen, das ins Körpergedächtnis wandert

Das Rechenspiel ist eine kleine Überraschung. Drei Boxen stehen da: ein Stern, zwei Sterne, drei Sterne. Jede Box enthält Aufgaben, abgestuft nach Schwierigkeit. Wer eine Aufgabe löst, zieht ein Bewegungskärtchen: Arme kreisen, wie ein Hase hoppeln, wie ein Hase auf der Flucht ausscheren oder über einen Baumstamm balancieren. Niemand muss motivieren. Die Kinder greifen automatisch zu den schwierigsten Aufgaben. Vielleicht, weil Rechnen hier kein abstraktes Sitzen bedeutet. Vielleicht, weil der Körper mitlernt und die Freude den Kopf öffnet.

 

Waldschule denkt weiter als bis zum nächsten Fach

So läuft dieser Morgen: Rechnen, Bewegung, Deutsch, Naturkunde – alles ist ineinander verwoben. Kein Fach steht für sich. Kein Thema braucht eine Wandtafel. Hier zeigt sich, warum Waldschule mehr ist als ein pädagogisches Experiment. Kinder erleben Zusammenhänge. Sie fühlen Verantwortung, handeln selbstständig. Und sie lernen, sich in wechselnde Situationen hineinzudenken, die Windrichtung zu bestimmen oder auch den Mondstand. «Draussen zeigt jedes Kind, was in ihm steckt», sagt Daniela. «Manchmal sogar Dinge, die im Schulzimmer unsichtbar bleiben.»

 

Ein Seilschwung als Schlusswort

Gegen Mittag endet der Unterricht. Gemeinsam packen wir zusammen. Bevor wir zum Auto zurückkehren, passiert noch etwas, das diesen Morgen bündelt wie ein letztes Ausrufezeichen. Ein Junge entdeckt an einem Baum eine Art Liane. Ein natürliches Seil, das vom Ast hängt. Er greift zu, hängt sich hinein, schwingt sich durch die Luft und jauchzt. Sekunden später stehen die andern daneben und wollen ebenfalls. Einer nach dem anderen fliegt kurz durch den Raum zwischen Stamm und Boden. Und man spürt, wie gerne sie noch bleiben würden. Wie leicht Lernen wird, wenn es mit dem eigenen Körper zusammenfällt. Wie sehr die Natur die Bühne ist, die ihnen Bodenhaftung und Wurzeln gibt.

 

Auf der Rückfahrt nach Luzern fällt Schnee. Er legt sich leicht auf die Bäume. Und in mir bleibt ein Gefühl zurück, das ich schwer benennen kann – vielleicht eine Mischung aus Dankbarkeit, Neugier und der Bestätigung meiner leisen Ahnung, dass Lernen nicht enger, sondern weiter werden sollte. Nicht nur für Kinder. Sondern auch für Erwachsene. Ich bin überzeugt: Ein solcher Vormittag würde uns Erwachsenen guttun. Nicht, um die Kindheit zurückzuholen. Sondern um zu sehen, wie gross Denken wird, wenn Natur, Raum und Vertrauen mitlernen dürfen.

 

 

 


Wer hinter diesem Waldschulzimmer steht

Rahel Schelb und Daniela von Rohr arbeiten bei YOUCOUNT in Wilderswil. YOUCOUNT begleitet Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf, für den in er öffentlichen Schule zu wenig Kapazität vorhanden ist. Am Standort Wilderswil lernen sie in kleinen Gruppen, mit viel individueller Begleitung und einem starken Praxisbezug. Der Unterricht folgt dem Lehrplan, wird aber handlungsorientiert umgesetzt – oft draussen, im direkten Kontakt mit Natur und Alltagssituationen. Ziel ist ein Lernen, das Selbstvertrauen stärkt, Selbstständigkeit fördert und jedem Kind erlaubt, in seinem Tempo voranzukommen.

 

 

Rahel Schelb

Rahel Schelb arbeitet mit ruhiger Präsenz und einer klaren Haltung: Struktur ist für sie kein Korsett, sondern ein Rahmen, der Kindern Halt gibt und gleichzeitig Raum für Entdeckungen lässt. Im Wald wie im Schulzimmer setzt sie auf eigenes Ausprobieren, handlungsorientiertes Lernen und viel Vertrauen in die Fähigkeiten der Kinder. Ihre Fragen öffnen Möglichkeiten – ihre Ruhe schafft Fokus. Ihre Website: https://www.freiraum-natur.ch/

 

Daniela von Rohr

Daniela von Rohr steht für eine Pädagogik, die Selbstwirksamkeit grossschreibt. Sie vertraut darauf, dass Kinder Lösungen finden, wenn man sie lässt – und begleitet diesen Prozess aufmerksam und zugewandt. Draussen zeigt sich für sie besonders deutlich, wie eigenständig Kinder handeln, wenn Vorgaben zu Fragen werden. Daniela verbindet Bewegung, praktisches Tun und dialogisches Lernen zu einem Unterricht, der Mut macht und verborgene Stärken sichtbar werden lässt.

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