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  • AutorenbildYvonne Ineichen

Im Schleier des Vergessens die Erinnerung finden

Aktualisiert: 2. Apr.



Eine Barista, die den Kaffeeschaum mit einem Blütenmuster aus Milch verziert
Vergangenheit und Gegenwart verweben sich in dieser kleinen Kaffeebar.

In einer versteckten Kneipe begegnet die Barista Marie Herrn Liebermann. Seine Anwesenheit löst eine Kette unerwarteter Ereignisse aus. Ein verlorenes Erbstück führt Marie auf eine Reise, die die Grenzen von Zeit und Erinnerung verschwimmen lässt. Was beginnt als ein alltäglicher Morgen in der Kaffeebar, entwickelt sich zu einer Suche nach Wahrheit, die Maries Leben für immer verändern könnte. Folge Marie auf ihrem Weg, die Vergangenheit zu entwirren, in einer Geschichte, die zeigt, wie eng Gegenwart und Vergangenheit miteinander verwoben sind.


Die Kneipe. Etwas versteckt, an einem beschaulichen Eck in der Stadt, steht sie, als ob sie unsichtbar bleiben möchte. Nur von denen entdeckt, die mit offenen Augen durch die Strassen gehen. Man trifft sich gerne hier. Auf einen Espresso, kräftig und aromatisch. Frohe Morgenlaune prallt auf Gesichter, die bereits zu früher Stunde zur Faust geballt sind. Verbunden durch die gemeinsame Vorliebe für einen kräftigen Espresso. Dazu das Croissant – aussen goldbraun und knusprig, innen butterzart schmelzend. Die grossen Freuden fürs kleine Budget. Das Sahnehäubchen? Das Lächeln der Barista. Es schleicht sich durch einen Spalt in jedes Herz. Nistet sich ein. Marie, sie ist die Krönung dieses Lokals. Ihr fein geschnittenes, liebliches Gesicht, die alabasterfarbene Haut, der warme Blick aus haselnussbraunen Augen vollenden das Konzept der Kaffeebar. Man ist versucht zu glauben, dass sie eingestellt wurde, weil ihr Haar just den gleichen Braunton hat wie die Holzverkleidung der Wände. Eine perfekte Harmonie, die einem bisweilen wortlos sein lässt. Kleine Tische drängen sich an die Wände. Eine lichtspendende Fensterfront lädt ein, sich in flauschige Kissen einzubetten. Im Schaufenster sitzend dem Treiben auf der Strasse zuzusehen – reality TV.

 

Marie lässt ihren Blick schweifen. In der hintersten Ecke sitzt er, Herr Liebermann. Sie fragte ihn nach seinem Namen, als sie ihm seinen Espresso servierte. Um Punkt Sieben stand er vor der Tür. Elegant gekleidet, adrett gekämmt. Drängte sich, kaum geöffnet, in die Bar und setzte sich in diese Ecke. Zwei Espressi hat er getrunken in den letzten viereinhalb Stunden. Sitzt da, starrt ins Leere. Sein Gebaren erscheint ihr eigenartig. Gelegentlich wandern seine Augen zur Tür. Mustern die Ein- und Ausgehenden. Die Zeiger der antiken Uhr oberhalb der Tür rücken auf elf Uhr dreissig vor. Marie stellt sich an seinen Tisch, räuspert sich: «Kann ich Ihnen noch etwas anbieten? Etwas zu trinken? Einen Teller Suppe? Curry mit Mango ist heute im Angebot.» Er blinzelt irritiert. Als hätte sie ihn aus einer anderen Welt ins Hier und Jetzt katapultiert. Seine Stimme bricht die Stille, rau und ungläubig. «Wieso warten wir nicht auf Mama? Du weisst das doch. Und warum das ‚Sie‘?» «Entschuldigen Sie. Ich spreche meine Gäste nur per du an, wenn sie es ausdrücklich wünschen.» «Gäste? Wieso Gäste?» «Naja, meine Kundschaft hier …» Er blickt sich um. Mustert eine junge Frau, die in der Schaufensterecke sitzt. «Was soll diese Wildfremde in meinem Haus?», herrscht er Marie an. «In Ihrem Haus? Das ist meine Kaffeebar. Und nicht Ihr Haus!» Er poltert mit seinen Fäusten auf die Tischplatte. «Erzähl keinen Blödsinn! Das ist mein Zuhause. Seit 1950 wohnen wir hier.» Langsam erhebt er sich, baut sich vor ihr auf. Wirft mit einem Ruck den Tisch um. Sein Stuhl fällt mit einem lauten Krachen zu Boden. Marie zuckt zusammen, ihr Blick hetzt durch den Raum. Ausser dieser jungen Frau ist niemand im Lokal. «Was, wenn er jetzt ausflippt, mich angreift? Er sieht ziemlich kräftig aus.» Maries Blick sucht instinktiv die Unterstützung der anderen Frau, die mit einem fast unmerklichen Nicken reagiert. Ihr Handy aus der Tasche klaubt, mit fliegenden Fingern eine Nummer wählt und ins Telefon flüstert.

 

Keine fünf Minuten später stehen zwei Uniformierte im Lokal und nehmen den betagten Herrn in Gewahr. Seine Versuche, sich loszureissen scheitern kläglich. Alle Kraft scheint mit einem Mal aus seinem Körper gewichen. «Ich will nach Hause. Wo ist sie, meine geliebte Frau? Ich will zu ihr nach Hause.» Wie ein Mantra wimmert er diesen Satz. Während Tränen über seine faltigen Wangen strömen. Marie beobachtet die Szene. Unbehagen umklammert ihre Brust. Eine leise Ahnung klopft beharrlich an ihre Herzinnenwand, nistet sich in ein. Sie rennt den Uniformierten hinterher. «Wo bringen Sie ihn hin?» «Zurück ins Heim. Wir kennen ihn. Er lebt in einem Altersheim. Ganz hier in der Nähe.» Marie dreht sich wortlos um, schlurft in ihre Oase zurück. Stellt Tisch und Stuhl wieder auf. Ein Sonnenstrahl fällt durchs Fenster. Trifft auf etwas Goldenes, das in der Ecke liegt. «Eine Taschenuhr», ist Marie überrascht, «die muss dem Herrn im Handgemenge mit den Polizisten aus der Tasche gefallen und zu Boden gekullert sein.» Neugierig klappte sie den Deckel auf. Die Inschrift macht sie stutzig. Da ist sie wieder, diese Ahnung. Eine leise nur. Doch sie ist beharrlich. Diese Worte tanzen in ihren Gedanken wie Kinder, die ungeduldig am Eingang zum Spielplatz zappeln: allein, krank, einsam, alt...Bis der Gedankendamm bricht. Und mit einem Mal ist ihr klar: «Ich muss hier raus!»

 

Sie schliesst die Türe zur Bar, hetzt in Richtung Altersheim, eilt in den grossen Gemeinschaftsraum. Sonnenlicht strömt durch die verglaste Wand mit bodentiefen Fenstern. Menschen sitzen teilnahmslos an Tischen. «Wie ein Wartesaal auf dem Weg in den Himmel…», denkt Marie. Eine Pflegeperson füllt gemächlich Wasser in Gläser. Marie marschiert auf sie zu, fragt nach Herrn Liebermann. Die Frau zeigt sich wenig hilfsbereit. Schweigepflicht, keine Auskunft, nur Angehörige, schnauzt sie Marie an. Die lässt sich nicht abwimmeln. Sie streckt der Dame die Uhr unter die Nase. «Da, schauen Sie! Die möchte ich dem Herrn zurückgeben. Sie wollen doch nicht, dass ich mich bei der Heimleitung beschwere. Weil Sie es Besuchern verunmöglichen, Ihrem Bewohner sein Eigentum zurückzugeben.» Das sitzt! Die Dame quetscht zwischen zusammengekniffenen Lippen ein «2. Etage, fünfte Tür links» heraus. Marie macht sich auf den Weg. Ihr Herz flattert wie die Flügel eines Kolibris. Und ihre Beine fühlen sich wie Gummi an. Zaghaft klopft sie an die Tür. «Herein!», erklingt seine sonore Stimme. Marie drückt die Klinke, tritt zögerlich ins Zimmer. Ein Blick aus haselnussbraunen Augen richtet sich fragend auf sie. «Herr Liebermann. Sie waren heute bei mir in der Kaffeebar. Und haben die hier verloren.» Sein Blick, ein einziges Fragezeichen. Er kann sich nicht erinnern. Marie hofft, dass der vertraute Gegenstand ein Tor zu seinen Gedanken ist. «Ich bringe Ihnen Ihre Taschenuhr zurück.» Als Marie die Uhr aus ihrem Beutel zieht, blitzt leises Erkennen in seinen Augen auf. Augen, die warm und gütig blicken, so gar nichts gemein haben mit dem wütenden Herrn. Verstohlen schaut sie sich um. Entdeckt auf einem Bild eine Frau, die ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich sieht. Herr Liebmann nimmt die Uhr in seine zitternden Hände, mustert sie. Seine Augen wandern von der Gravur im Deckel zu der jungen Frau vor ihm. Verwirrung und Erinnern zugleich zeichnen sich auf seinem Gesicht ab. «Marie...?» murmelt er.

 

So als ob er den Namen kosten wollte. Testen, um festzustellen, ob er eine Verbindung herstellen, eine Erinnerung damit verknüpfen kann. Marie nickt und lächelt. «Ja, Herr Liebermann. Marie ist mein Name. Sie haben diese Uhr heute Morgen in meinem Lokal verloren. Es schien mir wichtig, sie Ihnen zurückzugeben», wiederholt Marie ihr Anliegen. Die Augen des älteren Mannes leuchten auf. Als ob die Erinnerung langsam durch Ritzen in sein Gedächtnis kriechen würde, sich ausbreitet und Raum einnimmt. Er nickt. Drückt die Uhr an sein Herz, liest flüsternd die Inschrift: «Marie, ich werde dich immer lieben. Dein Papa.» «Danke, Marie,» sagt er leise. «Ich habe diese Uhr meiner Tochter geschenkt, als sie 25 war. Es war das letzte Geschenk, das ich ihr gemacht habe, bevor...» Seine Worte werden brüchig. Er schweigt. Marie versteht den Schmerz in seinen Augen. Sie hat auf dem Foto im Zimmer des Mannes ihre Mutter erkannt. Zumindest, soweit sie sich erinnern kann. Es ist gefühlt ewig her, dass ihre Mutter verstarb. Und sie als Dreijährige in ein Heim kam, weil da keine Angehörigen waren, die sich um sie kümmern konnten. So sagte man ihr. «Es ist ein wunderschönes Geschenk, Herr Liebmann. Sie müssen Ihre Erinnerungen an Ihre Tochter in Ehren halten.» Der alte Mann nickt, schliesst die Augen und versinkt in der Vergangenheit. Marie verlässt leise das Zimmer. Sie weiss, sie wird wiederkommen.

 

In den folgenden Wochen besucht Marie Herrn Liebermann regelmässig im Altersheim. Sie hört sich seine Geschichten an, lacht über seine Anekdoten. Oft teilen sie Momente des Schweigens. Ein behutsames sich Antasten. Aufdecken. Ausbreiten von Vergangenem. Bis daraus ein Teppich aus Tatsachen, ein Ganzes wird. Sie realisiert, wie Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschmelzen. Marie erfährt, warum ihr Opa sich nicht um sie kümmern konnte, als ihre Mutter starb. Und erlebt, wie die Uhren in Herrn Liebmanns Welt wieder zu ticken beginnen. Hat er seine abwesenden Momente, liest Marie ihm vor. Sie ist überzeugt, dass ihre Worte zu ihm durchdringen. Selbst dann, wenn keine Reaktion erfolgt. Es wird zu ihrem Ritual. Opa und Enkelin. Nach 25 Jahren vereint. Die anderen Bewohner des Altersheims sind von Maries Besuchen inspiriert. Sie beginnen, sich für ihre eigenen Erinnerungen zu öffnen. Hauchen Geschichten aus der Vergangenheit und sich selbst wieder Leben ein. Marie findet in Herrn Liebermann nicht nur ihren verloren geglaubten Opa wieder. Sondern auch Zugang zu ihrer Herkunft. Bis zu seinem letzten Atemzug.

 

Im Andenken an Herrn Liebermann verwirklicht Marie ihren Traum: eine eigene Kaffeebar, die mehr ist als nur ein Ort für Kaffee – eine Zuflucht für Geschichten, eine Heimat für Erinnerungen. Jeden Monat organisiert sie Treffen, bei denen die Bewohner von Altersheimen und junge Menschen in der Bar zusammenkommen, um Geschichten auszutauschen. Die Bar, sie nennt sie Liebermann, wird zu einem Ort, an dem nicht nur Kaffee und Croissants serviert werden. Sondern Vergangenheit und Gegenwart sich verweben.

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