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  • AutorenbildYvonne Ineichen

Verwebte Erinnerungen



Seit Stunden verweile ich in der Bibliothek. Hier, auf einer schlichten Holzbank, habe ich meinen Platz gefunden. Und arbeite. Mein Laptop ruht auf einem runden Tisch mit bordeauxroter Resopal-Oberfläche. Geschäftiges Treiben, ein Kommen und Gehen. Doch alles geschieht, umhüllt von einer Aura der Stille. Die Atmosphäre ist durchgeistigt, als würde jedes Flüstern in den Mauern der Bibliothek verweilen. Und mit den Zeilen der Bücher verschmelzen.


Die Worte fliessen mühelos aus meinem Innern, als wäre ich nur ein Werkzeug für die Gedanken. Als ob sie bloss durch mich hindurchströmen. Und in dieser Welt der Worte zieht ein Mann unaufhörlich meine Aufmerksamkeit auf sich. In regelmässigen Abständen schreitet er den immer gleichen Weg durch die Bibliothek. Ruhig, bedächtig, als würde er die Zeit in seinen eigenen Rhythmus einbinden.


Seine Erscheinung ist wie Poesie in Bewegung. Hager, mit grauem Haar, das sich sanft wie ein Heiligenschein um seinen Kopf legt. Seine Kleidung, dunkel und von zurückhaltender Eleganz. Sie umschliesst ihn wie ein Schutzschild gegen die Aussenwelt. Sein Gang erscheint mir schwerfällig, als trüge er die Last vieler Geschichten auf seinen Schultern. Doch das, was meine Aufmerksamkeit am meisten fesselt, ist seine Plastiktasche. Er hält sie so fest an seine Brust gedrückt, diesen eckigen Gegenstand in eine Tüte verpackt.


Ich beobachte ihn, ohne zu glotzen. Meine Neugier ist geweckt. Ein Ehering schimmert an seiner Hand. Ein stummer Zeuge der Verbindung zu einer anderen Seele. Was mag ihn wohl in diese Bibliothek führen? Und immer wieder den gleichen Weg gehen? Welches Geheimnis verbirgt sich in der Tasche, die er mit solcher Hingabe hütet?


Eine Geschichte formt sich in meinem Inneren. Wie Tinte, die sich auf das Papier legt. Vielleicht trägt er ein Tagebuch bei sich? Ein Vermächtnis seiner verstorbenen Frau. Die Seiten gefüllt mit ihren Gedanken, ihren philosophischen Erkenntnissen, die sie aus Büchern und Zeitungen gesammelt hat. Dieses Tagebuch ist zu seinem Begleiter geworden. Es ist ein Fenster zu ihrer Seele, das nun an seiner Seite ruht. Einst sassen sie gemeinsam hier, an diesem durchgeistigten Ort. Und gaben sich den schönen Worten hin. Den Tiefen, den zu ergründenden.


In meiner Vorstellung verbinden sich die Fäden dieser Geschichte. Er setzt sich auf seinen Polsterstuhl, öffnet das Tagebuch und beginnt einen stillen Dialog mit seiner verstorbenen Frau. Die Worte, die er liest, sind wie ein Hauch von ihr. Eine Erinnerung an ihre gemeinsamen Stunden in dieser Bibliothek. Hier fühlt er ihre Nähe, als wäre sie physisch präsent und nicht bloss in seinem Herzen.


Ich sitze hier. Beobachte. Meine Gedanken formen sich zu Worten, die Emotionen werden zu Sätzen. Und so entsteht eine Verbindung zwischen mir und diesem Mann, von dem ich kaum mehr weiss, als wie er aussieht. Doch mir scheint, als könne ich seine Sehnsucht spüren, seine leise Melancholie wahrnehmen. Und auch seine Dankbarkeit, ob dem Geschenk, das er mit seiner Frau teilen durfte.


In meiner Fantasie werden diese zwei Menschen zu lebendigen Figuren. Zu einem Symbol für die Kraft der Liebe und der Erinnerung. Und ich frage mich, ob vielleicht auch ich eines Tages eine Geschichte habe, die in den Mauern einer Bibliothek auf jemanden wartet. Um entdeckt und erzählt zu werden.

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